Interview des Tages: Ulrich H.J. Körtner (Prof. für Systematische Theologie an der Universität Wien, ist Experte bei der Vollversammlung)
Welche Erwartungen haben Sie an die Vollversammlung?
Körtner: Das Christentum insgesamt steht in Europa vor dramatischen Veränderungen. Die Kirchen verlieren an Mitgliedern. Auch die protestantischen Kirchen sind von diesen Umbrüchen betroffen. Um so wichtiger ist es, die Gemeinschaft der evangelischen Kirchen zu stärken und zu vertiefen. Dazu erhoffe ich mir Impulse von der 9. Vollversammlung.
Wo kann man theologisch weiterkommen?
Körtner: Im ökumenischen Kontext steht das Leuenberger Modell von Kirchengemeinschaft namentlich von katholischer Seite in der Kritik. Wiederholt hat beispielsweise Kurienkardinal Kurt Koch eine scharfe Alternative zwischen einem sakramentalen Kirchenverständnis und dem Kirchenverständnis der Leuenberger Konkordie und der GEKE aufgestellt. Meines Erachtens ist es notwendig, die ekklesiologischen Diskussionen innerhalb der GEKE zu vertiefen. Der evangelische Begriff der Kirchengemeinschaft und die damit verbundene Ekklesiologie sollte nicht verwässert werden. Themen wie die Kontroverse um die Studie zu Gender, Sexualität, Ehe und Familie zeigen, dass Dissense in ethische Fragen auch dogmatische Fragen berühren. Das ist eine ernstzunehmende Entwicklung. Ich plädiere deshalb dafür, diese dogmatischen Fragen zu bearbeiten. Konkret denke ich an die theologische Anthropologie, also ein evangelisches – evangeliumsgemäßes Verständnis des Menschseins. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem heute für besonders schwierig gehaltenen Begriff der Sünde.
Was bedeutet der Begriff „Europäische Theologie“ und gibt es das überhaupt?
Körtner: Schaut man sich die Entwicklung der GEKE an, kann man durchaus von einer europäischen Theologie sprechen. Es gibt ja innerhalb der GEKE eine gesamteuropäische Lehrbildung, auch im Bereich der Ethik und der Sozialethik. Ich würde mir wünschen, dass die Ergebnisse dieser Lehrbildung, also der verschiedenen Lehrgespräche und Studienprozesse, stärker als bisher auch in das Theologiestudium und in theologische Lehrbücher Eingang finden. Ich habe das zum Beispiel in meinem Lehrbuch der Dogmatik (2018/2020) und meiner Ökumenischen Kirchenkunde (2018) getan.
Welches sind aus Ihrer Sicht die dringendsten ethischen Probleme?
Körtner: Generell zeigt sich, dass ethische Differenzen und Dissense nicht nur zwischen den Mitgliedskirchen der GEKE, sondern auch innerhalb derselben zunehmen. Gegenüber der Analyse in der Studie „Stand up for Justice“ (2012) haben die Spannungen nach meiner Wahrnehmung zugenommen. Deshalb ist es wichtig, das Thema einer „Ethics of Disagreement“ zu bearbeiten. An Themen der materialen Ethik nennen ich: Migration, Flucht und Asyl in Europa, besonders das Problem der irregulären Migration, Krieg und Frieden (eine grundlegende Revision der protestantischen Friedensethik der zurückliegenden Jahrzehnte), Sexualethik und kritische Auseinandersetzung mit Queer-Theorien, Zukunft der Demokratie in Europa sowie der Beitrag der Kirchen zum inneren Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften, deren Zentrifugalkräfte stärker werden. Generell könnte ich auch sagen: Wir brauchen eine kritische, theologische fundierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Identitätsdiskursen und Identitätspolitiken.
Welches war Ihre interessanteste Begegnung?
Körtner: Ich bin erst gestern in Sibiu angekommen und kann daher noch kein Zwischenresümee ziehen. Besonders interessant waren für mich aber am gestrigen Abend Gespräche mit jüngeren Theologinnen und Theologen. Die Rolle der jungen Theologengeneration innerhalb der GEKE muss gestärkt werden. Darauf beruht ihre Zukunft.